Bei uns gibt's was zu holen - Erntedank

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Viele Dorfkirchen im Fränkischen.  Die ganze Woche schon wird es vorbereitet. Die Stufen sollen überquellen von den Ernteerträgen dieses Jahres. Ein Gebinde aus Ähren wird alles bekrönen. Bis an den Rand des Altars soll das symbolträchtige Bild der Fülle reichen. Einmal im Jahr in die Kirche gebracht, vor Gott platziert: kein Ausdruck der Prahlerei im Stil von „mein Auto, mein Haus, mein …,“; kein werbendes Schaufensterbild, das verlockend ausbreitet, was ich auch noch haben sollte. Im heiligen Raum verstummt der täglich gewohnte anpreisende Marktschrei der Fülle: Du brauchst mich; erlischt der Funke Gier im Auge des Betrachters: Das will ich haben!  

Der tiefe Sinn des Erntedankfestes wird sichtbar, leuchtet im Strahl der Morgensonne durch farbige Kirchenfenster. Die Fülle kommt nach Haus. Vor dem Altar entlockt sie Danklieder. Lobpreis statt Anpreisen. Das Geheimnis bekommt eine Chance, in mir darf ich eine Ahnung zulassen davon, dass es mehr ist als der Ertrag meiner Anstrengung, meines Tuns, meiner Arbeit, der die Fülle möglich macht. Die wachsende Zahl der Gottesdienstbesucherinnen und -besucher an diesem Festtag zeigt, wie Vielen dieses Altarbild eine wichtige Alternative zu ihrem Alltag geworden ist.

In einer Dorfkirche im Fränkischen steht am Sonntag mitten im Sinnbild des Überflusses ein leerer Korb. Platz für weitere Gaben? Für den der Stimmung abgerungenen besser als sonst gefüllten Klingelbeutel? Platz für Symbole anderer geschenkter, verdankter Fülle?

Es kamen so viele, weil es was zu holen gab bei uns. Vor fünfundzwanzig Jahren erhielt Rechtskraft, was elf Monate vorher begann: Als die Mauern fielen, die Grenzzäune den Bolzenschneidern nicht standhielten und die Schlagbäume hoch gingen: So viele kamen, weil es bei uns was zu holen gab. Klar, auch gefüllte Regale, mit verwirrender Vielfalt gefüllte Regale. Vor allem aber gab es: Das Versprechen der Freiheit. Freiheit von Gewalt und Willkür. Freiheit zur eigenen Meinung und für Kunst und Wissenschaft, Freiheit zur Religion. Das Postulat der unantastbaren Würde aller. Und das alles als Grundlage für Frieden für alle Menschen guten Willens.

Das Rendezvous mit der Realität stand noch bevor. Angst und Sorge vor der andrängenden Veränderung mussten erst noch Sprache bekommen. Erst wenn sie ausgesprochen werden, können sie ihre zerstörende Macht verlieren und zur Sorgfalt anleiten. Fünfundzwanzig Jahre weiter ist daraus über weite Strecken Alltag geworden und Normalität.

Diese Normalität werde ich zusammen mit den Erinnerungen an damals als Zeichen der Fülle in den leeren Korb am Altar legen, als Anstifter meiner Dankbarkeit: So viele kamen, weil es tatsächlich was zu holen gibt bei uns.

Stefan Ark Nitsche

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